Co-Preisträgerin Friedensnobelpreis

Nehdads Geschichte: Unheilbare Wunden

Nehad ist 55 Jahre alt. Sie sitzt auf ihrem Bett in einer Wohnung im 3. Stock. Sie hat vier Kinder: zwei Söhne und zwei Töchter. Diese haben ihr sieben Enkelkinder geschenkt. Von ihrem Bett aus kann sie die Stadt und die Hügel durch das Fenster betrachten. Wenn sie sich bewegt, geht nur ihr Oberkörper mit. Sie ist von der Hüfte abwärts gelähmt.

Röntgenbild von Nehdads Wirbelsäule.

Nehdad ist seit ihrer Flucht aus Syrien von der Hüfte abwärts gelähmt.

 Ihre Familie lebte früher in Aleppo. Zunächst löst die Vorstellung, ein Interview zu geben, in ihr große Angst aus.

Warum wollt ihr mit mir sprechen? Ich schäme mich. Schaut mich an. Hat denn die Welt noch nicht genug gesehen?

Sie will nicht fotografiert werden.

Unentwegte Bombenangriffe und Beschuss

In Aleppo lebten wir in einer Wohnung im zweiten Stock eines fünfstöckigen Wohnhauses. Das vierte und fünfte Stockwerk waren komplett zerstört. Doch es wohnten immer noch Leute im dritten Stock. In unserer Straße lebten unterschiedliche Konfliktparteien, die sich dort gegenüber standen. Daher lebten wir auf der „Grünen Linie“: Die ganze Zeit fielen Bomben und Schüsse.

Immer wenn sich eine Gelegenheit bot, verließen wir das Haus. Dabei hatten wir immer Angst, nicht mehr zurückzukommen. Die Straße war gefährlich. Eines Tagen töteten sie ein elfjähriges Kind. Zwei Tage vor dem Opferfest. Ich kannte die Mutter. Wir versuchten, sie zu beruhigen. Doch wie sollte sie ruhig bleiben? Das bricht einem das Herz.

Selbst im Haus bangten wir immer, was als nächstes passieren könnte. Die Kinder waren immer verängstigt. Sie hatten das nicht verdient. Wir hatten das nicht verdient. Niemand verdient so etwas.

Von Scharfschützen getroffen

Wir hatten Aleppo schon einmal verlassen. Das war zwei Jahre, bevor ich angeschossen wurde. Doch die Lage hatte sich beruhigt, also kamen wir zurück.

Dann wurde ich von einem Scharfschützen angeschossen. Es war am 22. Februar 2015. Ich verließ gerade das Wohnhaus und wollte auf den Markt gehen. Es fühlte sich an, als würden wir in einem Gefängnis leben. Einkaufen mussten wir trotzdem. Mir wurde in die Schulter geschossen. Die Kugel ging durch die Lunge und blieb in der Wirbelsäule stecken – im Rückenmark. Ich fiel sofort zu Boden und lag für eineinhalb oder zwei Stunden auf der Straße. Niemand kam, um mich zu retten. Es war zu gefährlich. Auf sie wäre ebenfalls geschossen worden.

Doch irgendwann taten sie es einfach. Eine Gruppe von Nachbarn nahm all ihre Kraft zusammen und kam hinunter aus den Wohnhäusern, um mich aufzusammeln.

Schmerz und Erniedrigung

Meine Söhne mussten mich herumtragen, meine Kinder mich bewegen. Ich fühlte mich so erniedrigt. Ich kann nicht mehr allein zur Toilette gehen. Ich blieb acht Monate lang verletzt in Aleppo. Sie mussten mich tragen.

Ich lebte gemeinsam mit meiner Tochter. Sie hat sich nicht von den Schrecken des Krieges in Syrien erholt. Sie wurde wegen psychiatrischer Erkrankungen behandelt. Die ständige Angst ist eine Last, die wir alle mit herumschleppen. Es ist genug. Genug Blut. Genug Krieg.

In Sicherheit – mit tiefen Wunden

Acht Monate nach meiner Verletzung überquerte ich die Grenze in den Libanon mit Hilfe meiner beiden Söhne.

Ob Männer oder Frauen, wir erleiden alle dasselbe. Jeder leidet. Niemand kann mehr in Syrien leben ohne zu leiden. Wie kann man überhaupt noch aufrecht stehen, wenn man das sieht, was wir gesehen haben? Allein der Anblick brennt schon in den Augen.

Wie sollen Menschen weiter aufrecht stehen, wenn selbst die Wände zusammenbrechen?

Meine Wunden verheilen nicht. Sie sind zu tief.

 

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