Co-Preisträger Friedensnobelpreis

Gaza: Psychische Hilfe inmitten der Trümmer

Nothilfe
Palästinensische Gebiete

Mitten in der Zerstörung Gazas leiden die Menschen nicht nur unter den sichtbaren Verwüstungen, sondern auch unter der psychischen Katastrophe. Traumatisierte Kinder, verzweifelte Familien – der Krieg hinterlässt tiefe Wunden. Nina Schöler, 30, arbeitet mit ihrem Team in Gaza, um die psychischen Folgen des Krieges wie Ängste, Panik, emotionale Taubheit oder Schlaflosigkeit einzudämmen.

Eine HI-Mitarbeiterin Nina Schöler steht vor einem zerstörten Haus in Gaza.

Nina Schöler, 30, unterstützt mit ihrem Team in Gaza Menschen, die durch 15 Monate Bombardierung und Vertreibung traumatisiert sind. | © K. Nateel / HI

Wie erleben Sie die aktuelle Lage in Gaza aus psychologischer Sicht? 

Nina Schöler: „Die Menschen in Gaza durchleben eine psychische Katastrophe. Die Waffenruhe gibt den Menschen jetzt zum ersten Mal Zeit und Raum, zu realisieren, was passiert ist. Als die Bomben fielen und an den Grenzen nur wenige Hilfslieferungen durchgelassen wurden, ging es nur ums Überleben. Jetzt stürmt alles auf sie ein: Der Verlust, die Angst, die Trauer. Jeder hier hat jemanden Geliebtes verloren. Die meisten ihr Zuhause - alle ihr altes Leben.“

Wie leiden speziell die Kinder unter dieser Situation? 

„Die Bevölkerung in Gaza ist jung, 47 % aller Menschen hier sind Kinder, das sind eine Million Kinder. Wir sehen ganz viele von ihnen, die Ängste zeigen und sich isolieren. Wir sehen ihre Angst und ihre Panik. Viele haben leere, emotionslose Gesichter. Manche Kinder, die bereits sprechen konnten, haben plötzlich damit aufgehört. Sie sind in einen Zustand völliger Hilflosigkeit gefallen, weil sie keine Kontrolle über ihr eigenes Leben haben. Außerdem sind 660.000 Kinder seit fast 1,5 Jahren ohne Schulbildung. Sie erleben sich selbst nicht mehr als selbstständige Kinder.“

Wie fühlen sich die Menschen, die nach Monaten der Abriegelung zurück in den Norden von Gaza zurückkehren?  

„Wir haben eine Broschüre mit Infos verteilt, um die Menschen psychisch vorzubereiten. Sie müssen sich darauf einstellen, dass mit der Heimkehr viel Trauer und Schock einhergeht. Anfangs waren es Bilder der Freude, als 500.000 Menschen zurück in den Norden geströmt sind. Aber dann kam die Ernüchterung: Viele erkannten nicht einmal ihre eigene Nachbarschaft. Wo einst Häuser standen, lagen nur noch Trümmer. Die Freude vom Anfang der Waffenruhe ist verpufft und wurde von tiefer Trauer ersetzt.“  

Wie sieht die psychologische Betreuung dieser Patientinnen und Patienten aus?

„Unsere Teams sind in 40 verschiedenen Flüchtlingscamps in Gaza aktiv. Wir helfen den Betroffenen, ihre neue Realität anzunehmen und gleichzeitig so viel sie können positiv zu beeinflussen – insbesondere diejenigen, die durch Kriegsverletzungen Gliedmaßen verloren haben oder andere schlimme Verletzungen davongetragen haben. Viele leiden nicht nur unter physischen Schmerzen, sondern auch unter Identitätsverlust, wenn sie beispielsweise vom Versorger der Familie plötzlich zur pflegebedürftigen Person werden.“

Gibt es eine Geschichte, die Sie besonders bewegt hat?

„Ein junger Mann, 24 Jahre alt, hat sein Bein verloren, als er seine kleine Nichte aus einem bombardierten Haus retten wollte. Der Mann hatte es gerade geschafft – da fiel eine weitere Bombe und er wurde mit seiner Nichte unter Geröll begraben. Er wurde schwer verletzt. Sein rechtes Bein musste amputiert werden. Der junge Mann konnte das Mädchen glücklicherweise retten, aber auch sie hat ein Bein verloren. Dank unserer psychologischen und physiotherapeutischen Betreuung beginnt er langsam, wieder Pläne für die Zukunft zu machen. In unserem neuen Zentrum für Prothesen und Orthesen steht er auf der Liste für ein neues künstliches Bein.“

Trotz der dramatischen Lage – sehen Sie Momente der Hoffnung? 

„Es ist für mich selbst sehr emotional zu sehen, dass nach dieser absoluten Hölle, die die Menschen hier in den letzten Monaten erlebt haben, endlich mit der Waffenruhe auch wieder positive Gefühle in den Mix der Gefühle kommen. Die Leute haben sofort angefangen, sich an jedes Stück Leben zu klammern und das Beste daraus zu machen, wiederaufzubauen was sie an materiellen Verlusten erlitten haben. Die Menschen, die sie verloren haben, können sie jedoch nicht wieder zurückbekommen. 
Wir wissen, dass unsere Arbeit für die Betroffenen einen wichtigen Beitrag zu positiver Veränderung leisten kann. Doch die psychische Katastrophe in Gaza wird uns noch Jahrzehnte begleiten und erfordert gut organisierte, langfristige und nachhaltige psychologische Unterstützungsprogramme.

Info: Handicap International in Gaza

Handicap International (HI) ist eine unpolitische und unparteiliche Nichtregierungs-Organisation und ergreift keine Partei in politischen Auseinandersetzungen. Die Angriffe der militanten Palästinenserorganisation Hamas und die Maßnahmen Israels haben verheerende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. Handicap International (HI) begrüßt den kürzlich vereinbarten Waffenstillstand. Wir haben nun die Möglichkeit, unsere Hilfsmaßnahmen massiv auszuweiten. Besonders Menschen mit Behinderung oder chronischen Krankheiten sind von der Situation stark betroffen.
 

 

12 Februar 2025
Einsatz weltweit:
Helfen
Sie mit

Lesen sie weiter

Ukraine: "Ich fühle mich wie in einem Gefängnis"
© M.Monier / HI 2024
Nothilfe

Ukraine: "Ich fühle mich wie in einem Gefängnis"

Anatoly und seine Frau Tatyana haben durch den Krieg in der Ukraine alles verloren. Eine Rakete zerstörte ihr Zuhause und verletzte Anatolys Beine so schwer, dass sie amputiert werden mussten. Heute lebt er isoliert in einer kleinen Wohnung und ist vollständig auf die Pflege seiner Frau angewiesen. Doch dank der finanziellen Hilfe von Handicap International (HI) schöpfen sie neue Hoffnung.

Sudan: Flucht vor dem Krieg, ohne laufen zu können
© T. Nicholson / HI
Nothilfe Rehabilitation und Orthopädie

Sudan: Flucht vor dem Krieg, ohne laufen zu können

Omran stammt aus der Region Darfur im Sudan. Der 9-Jährige hat zerebrale Kinderlähmung und kann nicht laufen. Bei den Gefechten und Bombardierungen starben sein Vater, Großvater und Cousins. Seine Mutter Djimilla entschloss sich daraufhin mit ihren Kindern in den Tschad zu fliehen. Sie trug Omran den ganzen Weg auf dem Rücken.

DR Kongo: Mit einer Prothese zurück ins Leben
© E. N'Sapu / HI
Minen und andere Waffen Nothilfe Rehabilitation und Orthopädie

DR Kongo: Mit einer Prothese zurück ins Leben

Nach einer Explosion in Nord-Kivu verlor Espoir sein Bein und seine Freunde. Anschließend musste er vor der Gewalt in seiner Heimatstadt Kitshanga fliehen. Seine Eltern hat er seitdem nie mehr gesehen. Doch er gibt nicht auf: Dank einer Prothese von Handicap International kann er wieder zur Schule gehen und träumt von einer besseren Zukunft.